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Zeitenwandel

19 Kurzgeschichten
von Ingrid Mayer



Leseprobe aus "Zeitenwandel"

Die Burg der Raben

Schwarze Schatten flogen vorüber - Silhouetten von Bäumen und Sträuchern am Rande der einsamen Landstraße, die nachts völlig leer war. Tamara trat aufs Gaspedal, als wolle sie mit jedem Kilometer nicht nur ihr Zuhause sondern auch den Schmerz hinter sich lassen, der sie so sehr quälte. Über den Feldern schwebten Dunstschleier wie Scharen milchiger Gespenster. In dieser Nacht war es besonders dunkel. Nicht etwa wegen dichter Wolken, die den Himmel verhängten. Es war sternenklar. Neumond.

Aus den Augenwinkeln nahm Tamara die rasche Bewegung am Fahrbahnrand wahr. Etwas löste sich aus den Umrissen der Büsche und lief los. Viel konnte sie nicht erkennen, dazu ging es zu schnell. Vollbremsung. Doch der Bremsweg war zu lang. Sie schaffte es nicht. Spürte den Widerstand. Ihre Gedanken hämmerten, redeten ihr ein, dass es sich um ein Tier handeln musste. Wieso sollte ein Mensch nachts in dieser verlassenen Gegend über die Straße laufen? Als das Auto zum Stehen kam, fiel es ihr schwer auszusteigen. Lieber hätte sie die Türen verriegelt und wäre einfach weitergefahren. Doch ihr Gewissen ließ es nicht zu. Langsam öffnete sie die Fahrertür, setzte erst ein Bein hinaus, tastend, in der irrationalen Erwartung, jemand könnte sich unter dem Auto befinden und ihren Fuß packen. Es musste weiter hinten liegen. Sie würde nachsehen, feststellen, dass das Tier tot war und es beiseite legen. Das kann schon mal passieren.

Sie sah die Konturen eines Lebewesens, das sich auf der Straße krümmte und wimmernde Geräusche von sich gab. Es war zu groß für eine Katze oder einen Fuchs, aber zu klein für einen Menschen. Ein Kind? Im Niederknien fassten ihre Hände nach der schmalen Schulter. Langsam drehte sie das Gesicht zu ihr, das von einem schwarzen Stück Stoff bedeckt war. Zitternd schoben ihre Finger ihn beiseite. Der Schrei, der sich aus ihrer Kehle lösen wollte, erstickte. Das war kein Tier. Aber auch kein Mensch. Anklagende Augen, die unnatürlich weit auseinander standen. Fast schienen sie aus den Schläfen zu wachsen.
Darunter ein dunkles, horniges Gebilde, dort, wo bei einem Menschen die Nase säße. Tamara wollte weg hier. Doch als sie losrennen wollte, krallte sich das Ding an ihrem Hosenbein fest und brachte sie beinahe ins Straucheln.

"Bitte bleib hier! Geh nicht fort! Schmerzen, starke Schmerzen."

Es kam ihr nun skrupellos vor, es einfach sich selbst zu überlassen.
"Sie müssen von der Straße weg!", rief sie und fasste zaghaft an den schwarzen Umhang, der das Wesen großzügig bedeckte. Überrascht registrierte sie, wie leicht es war. Beinahe wie Papier ließ es sich wegschieben.
"Ich werde Sie zu einem Arzt bringen", versprach die junge Frau.
"Nein, kein Arzt!"
"Sie sind verletzt, es wäre wirklich vernünftiger."
"Nein, bitte!", flehte es mit leiser Stimme, die kehlig aus dem schwarzen Gebilde inmitten seines Gesichts drang.
"Wie Sie meinen. Soll ich Sie wenigstens heimbringen?"
Insgeheim hoffte sie auf ein Nein, doch es nickte zaghaft. Einen Augenblick lang erwog die junge Frau, es doch zurückzulassen, aber als es jämmerlich aufstöhnte, schoben sich ihre Arme unter das Geschöpf und hoben es sacht hoch.

Als es neben ihr auf dem Beifahrersitz kauerte, stellte sie sich vor.
"Ich heiße Tamara."
Krächzend entgegnete es: "Asanuel."
Den Namen hatte Tamara noch nie gehört. Fremd klang er, doch sie wagte nicht, nach der Herkunft zu fragen.
Seine Wegbeschreibung war knapp, aber ausreichend. Ein abgelegener, schmaler Waldweg führte leicht bergauf. Sie konnte nicht glauben, was sie da machte. Trotzdem fuhr sie weiter, das Auto holperte über Kiesel hinweg, Äste streiften die Scheiben.
"Jetzt bitte stehen bleiben!", ächzte es neben Tamara, die nirgends ein Haus entdecken konnte, aber schließlich den Wagen trotzdem anhielt. Durchs Seitenfenster sah sie eine verfallene Mauer aus der Dunkelheit aufragen. Dahinter erhob sich ein verlassener Turm, der wirkte, als könnte ihn bereits ein schwacher Windstoß zum Einstürzen bringen. Als Tamara ausstieg, schlug ihr Herz bis zum Hals. Sie stand vor einer Burgruine.
"Soll ich Sie wirklich hier absetzen?"
Aus dem Auto wimmerte es leise: "Ja, bitte hier."
Tamara überlegte, ob sie ihn tatsächlich an diesem Ort allein lassen sollte. Die sternklare Nacht war kühl, sie konnte ihren Atem sehen. Und es war vollkommen still. So still, dass sie zusammenfuhr, als über ihr ein Schrei ertönte. Doch es waren nur ein paar Raben, die über die Baumwipfeln hinweg segelten. Sie öffnete die Beifahrertür und half Asanuel aus dem Auto.
"Sind Sie sicher, dass Sie hier bleiben möchten? Hier wohnt doch niemand."
"Dort drüben ist es", entgegnete Asanuel. Schlaff deutete er in die Richtung, in der sich die Ruine befand. "Ist es nicht prächtig?"
Tamara wollte widersprechen und ihn darauf hinweisen, dass es sich nur um die kläglichen Überreste eines Gebäudes handelte, doch als ihr Blick erneut auf die Mauern fiel, waren diese verschwunden. Stattdessen erhob sich vor ihr eine mächtige Festung mit zinnenbesetzten Türmen, die den Eindruck erweckte, sie wäre eben erst gebaut worden. In einem der winzigen Fenster flackerte Kerzenlicht. Tamaras Knie wurden weich, ihre Beine drohten einzuknicken, aber Asanuel bat sie um Hilfe.
"Bitte bring' mich hinein, alleine schaffe ich es nicht."
Auf ihren Arm gestützt, betrat der Verletzte mit Tamara die Burg...


© Ingrid Mayer 2018


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